Expert:innenmeinung

Welche Vorteile hat die Netzwerkarbeit für kleine und mittelständische Unternehmen, wenn es um die Gesundheit ihrer Beschäftigten geht? Wie können sich Netzwerke regional organisieren und welchen Herausforderungen begegnen Sie dabei? In unseren Interviews sprechen wir mit erfahrenen Expert:innen aus dem Gesundheitsmanagement über diese Themen und erfahren, wie sich die Gesundheitsförderung in den nächsten Jahren verändern wird.

Im Interview mit Detlef Kuhn: Über die Zukunft des BGM

Als Geschäftsführer und Gründer vom Zentrum für angewandte Gesundheitsförderung und Gesundheitswissenschaften GmbH (ZAGG) beschäftigt sich Detlef Kuhn seit 25 Jahren schwerpunktmäßig mit der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF). Gemeinsam mit Krankenkassen und Ministerien auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene hat er verschiedene Projekte rund um dieses Thema umgesetzt. In den letzten Jahren sind Projekte in Schulen, Kitas, Kommunen und Pflegeeinrichtungen hinzugekommen. Im Interview erzählt Herr Kuhn, welche Vorteile Gesundheitsnetzwerke insbesondere für kleinere Betriebe haben und vor welchen Herausforderungen die Gesundheitsförderung derzeit steht.

Herr Kuhn, welchen Mehrwert bietet ein Netzwerk für Kleinst- und Kleinunternehmen?

Für Klein- und Kleinstbetriebe ist es sicherlich erst einmal ein großer Vorteil, dass die Systematik „Netzwerk“ ihrer Praxis ohnehin sehr nahe ist, ohne dass unbedingt dieser Begriff verwendet wird. Innungen oder Stammtische beispielsweise, die es schon seit vielen Jahrzehnten gibt, haben große systematische Ähnlichkeiten mit den neueren Netzwerkansätzen. Im Vordergrund stehen der kollegiale Austausch, die gegenseitige Unterstützung, gemeinsam aktiv zu werden oder zusammen Themen voranzubringen und öffentlich zu machen. Es gibt gerade bei Handwerksbetrieben eine lange Tradition von Zusammenschlüssen, die so agieren.

Das heißt, die Netzwerkstrukturen bestehen bereits, aber sie werden anders bezeichnet?

Ja, in den klassischen kleinbetrieblichen Strukturen, etwa in Gremien, würden die Betriebe und Unternehmer gar nicht unbedingt davon sprechen, dass sie ein Netzwerk sind, aber sie treffen sich eben schon seit vielen Jahren und bearbeiten gemeinsam Themen. Es ist eine Frage der Bezeichnung. Wenn man die Idee des Netzwerks verfolgt, sollte man deswegen berücksichtigen, was es bereits gibt und wo man gut andocken kann, ehe man sich mit Begrifflichkeiten die Wege verbaut und es später heißt: Brauchen wir nicht, haben wir schon!

Wie können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Zusammenschlüssen profitieren?

Netzwerke sind auf den ersten Blick häufig arbeitgeberorientiert. Aber im zweiten oder dritten Schritt profitieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davon. Denn das Interesse, in puncto Gesundheit auf dem neusten Stand zu sein und sich in Netzwerken zu bewegen, bringt in der Regel einen Nutzen für den ganzen Betrieb – und damit für alle. Wenn es beispielsweise um die Umsetzung von BGM oder BGF geht, erleichtert ein Zusammenschluss von Betrieben es, Angebote für die Arbeitnehmer kleinerer Betriebe zu entwickeln, sodass sie überbetrieblich beispielsweise an Workshops oder Seminaren teilnehmen können.

Warum sind die Themen Arbeit und Sicherheit heute so wichtig für ein Unternehmen?

Diese Themen sind seit vielen Jahren wichtig für die Betriebe. Deswegen ist über die Krankenkassen und Berufsgenossenschaften auch schon viel passiert in Bezug auf Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit. Zukünftig ist dies sicherlich mit besonderen Aufgaben verbunden. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung und den Arbeitsplätzen, die eben nicht mehr den klassischen Berufen und Arbeitsstrukturen entsprechen, entstehen neue Herausforderungen. Ein Crowdworker und immer mehr Beschäftigte im Homeoffice zum Beispiel sind weit entfernt von all dem, wo sonst Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung greifen. Sie stehen nicht mehr unter dem Einflussbereich von Krankenkassen und Berufsgenossenschaften. Dieser wichtige Aspekt wird bereits vielfach auch von den Gewerkschaften diskutiert: Wie kann man für solche Beschäftige, die es in Zukunft immer häufiger geben wird, noch Möglichkeiten zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz bieten? Gleichzeitig sind die – ich nenne sie mal „klassischen“ – Themen nach wie vor relevant: Wie kann ich mich im Pflegebereich oder im Handwerksbetrieb rückengerecht verhalten und gute ergonomische Bedingungen schaffen? Diese typischen Gesundheitsthemen, die schon vor Jahren eine Rolle gespielt haben, sind heute immer noch von Bedeutung, auch wenn weitere, vor allem zur psychischen Gesundheit, hinzugekommen sind.

Im Interview mit Dr. Birgit Schauerte: "Beratung aus einer Hand"

Als Teamleiterin des Bereichs Forschung & Entwicklung am Institut für Betriebliche Gesundheitsförderung entwickelt Frau Dr. Schauerte innovative Ansätze für das Betriebliche Gesundheitsmanagement. Zwei Fragen beschäftigen sie dabei besonders: Welche Bedarfe haben Betriebe rund um Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und wie können sie unterstützt werden? Vor diesem Hintergrund hat die promovierte Sportwissenschaftlerin ein Konzept für die BGM-Betreuung von Kleinstunternehmen in Betriebsnachbarschaft entwickelt. Zurzeit arbeitet sie an einem Pilotprojekt zur Umsetzung einer berater- und trägerübergreifenden Zusammenarbeit. Wie sie zu ihrem Beruf gekommen ist, was sie sich unter regionaler Netzwerkarbeit vorstellt und wie sie umgesetzt werden kann, darüber hat sie mit uns gesprochen.

Frau Dr. Schauerte, können Sie ein paar Worte dazu sagen, wie Sie zum Thema Gesundheitsförderung gekommen sind?

Ich bin von Hause aus Krankenschwester, anschließend habe ich Sportwissenschaften mit dem Schwerpunkt Prävention und Rehabilitation studiert – mit dem Ziel, künftig zu verhindern, dass Menschen aufgrund von hohen Arbeitsbelastungen krank werden oder aus dem Beruf ausscheiden.

Worum geht es Ihrer Meinung nach in der Netzwerkarbeit? Wo liegen die Vorteile?

Im Kern schafft die träger- und beraterübergreifende Zusammenarbeit in einem regionalen Netzwerk die Bündelung von Beratungskompetenzen. Die Krankenkasse beispielsweise ist damit beauftragt, gesunde Arbeitsbedingungen zu gestalten und die Beschäftigten für einen gesunden Lebens- und Arbeitsstil zu sensibilisieren. Die Aufträge der Berufsgenossenschaften wiederum liegen im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz, unter anderem mit dem Schwerpunkt Gefährdungsbeurteilung. Auch die Rentenversicherung hat umfassende Präventionsangebote, die Beschäftigte befähigen, einen gesunden Lebens- und Arbeitsstil umzusetzen. 

Die gesetzlichen Präventionsaufträge der Sozialversicherungsträger greifen ineinandergreifen und wir können in der BGM-Beratung von Unternehmen gut aufeinander verweisen – vorausgesetzt man kennt sich vor Ort. Das ist die Idee hinter dem Pilotprojekt: ein Netzwerk im Rheinisch-Bergischen Kreis, das Beratungskompetenzen bündelt und persönlichen Kontakt schafft. Bei unserem Netzwerk sind zum Beispiel auch zwei Wirtschaftsförderungen an Bord, die weitere Partner – unter anderem die Bundesagentur für Arbeit (BA), die IHK und die HWK – für die Netzwerkarbeit überzeugt haben. Somit haben wir auch Akteure hinzugewonnen, die sich mit der Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit dem Thema Fachkräftesicherung beschäftigt. Wenn mich in der Beratung ein Betrieb fragt, wie neue Fachkräfte gewonnen werden können, kann ich zum Beispiel an eine konkrete Person aus der Bundesagentur für Arbeit verweisen, die in meinem Netzwerk ist. Es geht darum, Brücken zu bauen und den entsprechenden Partner ins Boot zu holen: Beratung aus einer Hand sozusagen.

Was waren beim Aufbau Ihres regionalen Netzwerks die ersten Schritte?

Die Wirtschaftsförderungen haben uns die Türen zu den anderen regionalen Unternehmensorganisationen (BA, IHK, HWK) aufgemacht.  Wir konnten die Vertreter der Sozialversicherungen (BGN, DRV und Krankenkassen) überzeugen, am Netzwerk mitzuwirken. Als erstes gab es einen Kick-off-Workshop mit allen Partnern. Hier ging es darum herauszuarbeiten, was die jeweiligen Beratungsschwerpunkte und Angebote der Einzelnen sind. Wir konnten uns persönlich kennenlernen und wissen nun, wer was macht. Das Ziel ist, dass sich ein festes Netzwerk in der Region etabliert. Damit ich bei einem Anliegen, das nicht zu meinem Beratungsschwerpunkt gehört, die entsprechende Person aus meinem Netzwerk ansprechen kann. Wenn alle Partner so agieren, dann ist das ein großer Mehrwert und alle fungieren als Lotsen im Sinne der Betriebe.

Der nächste konkrete Schritt ist, dass wir gemeinsam eine Veranstaltung für Klein- und Kleinstunternehmen durchführen, bei der wir uns als starkes Team für Unternehmen rund um BGM und darüber hinaus vorstellen. Was wir für die Betriebe der Region leisten, soll auf der Veranstaltung durch Workshops, in denen jedes Unternehmen die Beratungsleistung live erleben kann, deutlich werden. Hinter all diesen Bestrebungen steckt immer die Leitfrage: Wie erreichen wir Kleinst- und Kleinunternehmen mit dem Thema BGM? Wir möchten uns als starkes Konsortium darstellen, gemeinsam für die Unternehmen unterstützend wirksam werden und das auch noch kostenneutral tun – denn wir agieren im Kontext unserer gesetzlichen Aufträge.

Im Interview mit Dr. Christoph Ramcke: Der BGM-Profi

Dr. Christoph Ramcke ist promovierter Sportwissenschaftler und seit 1998 im Betrieblichen Gesundheitsmanagement tätig. Er ist Key-Note Speaker, Moderator und Workshopleiter. Seit über 20 Jahren beschäftigt er sich mit einem Kernthema des Gesundheitsmanagements: Der Motivation zur langfristigen Veränderung von Verhalten und Strukturen. Als Eigentümer der Marken Schweinehundanleiner® und Schweinehundanleinung® konnte er schon etliche Firmen und Beschäftigte für das Thema Gesundheit begeistern. Wir haben ihn gefragt, wie sich die Ansätze über die Jahre verändert haben, was hinter der Idee der Schweinehundanleinung steckt und welche Fragen und Anliegen ihm immer wieder begegnen.

Herr Dr. Ramcke, Sie beschäftigen sich seit den späten Neunzigern mit dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Wie hat sich das Thema über die Jahre verändert?

Da hat sich so einiges getan. 1998 wurde in der Gesundheitsförderung noch viel mit richtig und falsch gearbeitet. Damals war vieles sehr verschult, es wurde eher belehrt, auch auf der betrieblichen Ebene. Heute sind die Ansätze anders: In den 2000ern hat die Motivationsforschung herausgefunden, dass man mit dem erhobenen Zeigefinger nicht weit kommt. Seitdem versucht man in der Gesundheitsförderung die Menschen zu motivieren – und zwar nicht mehr mit Gesetzestexten oder Verpflichtungen. Denn dann passiert betriebliche Gesundheitsförderung häufig nur für die Schublade. Soll sie allerdings nachhaltig sein, braucht es Motivation. Gesundheit darf Spaß machen! So lautet auch einer meiner Claims.

Gemeinsam mit Ihren Mitarbeitenden agieren Sie unter dem Titel „Schweinehundanleiner“. Was steckt dahinter?

Anfang der 2000er waren Rückschulen eher leidensorientiert. Wir wollten hingegen erreichen, dass man in einer Rückenschule, wo durchaus ein hoher Leidensdruck herrscht, auch mal lacht. So sind wir zu der Philosophie gekommen, dass wir uns vor allem um Verhaltensveränderung bemühen. Ob jemand auch mal zum Apfel greift oder die Firmenstruktur umgebaut wird – am Ende geht es überall um Verhaltensveränderung und darum, wie sie umgesetzt werden kann. Wie also erreichen wir Verhaltensveränderung? Indem wir Emotionen wecken, Anker im Kopf setzen und das Ganze mit Positivem verbinden. Unser Schweinehund-Ansatz folgt nicht dem Prinzip, den Schweinehund bekämpfen, besiegen oder töten zu wollen. Wir möchten, dass es gelingt, ihn an die Leine zu nehmen und dahinter zu kommen, wie er agiert und was er für Tricks hat. Entscheidet sich jemand als Einzelner oder als Organisation eigens für Veränderung und im weiteren Verlauf passiert nichts, dann sind die vermeintlichen Gründe dafür meistens Ausreden. Diese Ausreden sind in der von uns geschaffenen Schweinehund-Welt die Tricks des inneren Schweinehunds. Unser Ansatz ist, sie kennenzulernen, d. h. das Wissen zu erlangen und im Anschluss Gegenmaßnahmen zu entwickeln, um in die Umsetzung zu kommen.

Sie haben schon zahlreiche Vorträge gehalten und Workshops durchgeführt – welche Fragen und Sorgen der Betriebe sind Ihnen dabei immer wieder begegnet und wie antworten Sie darauf?

Am häufigsten wird der zeitliche, gelegentlich auch der finanzielle Ressourcenmangel thematisiert. Die Antwort darauf ist sehr individuell. Grundsätzlich weise ich an solchen Stellen aber auf die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten Veranstaltungen hin, die den Netzwerk-Gedanken verfolgen und als Lösungsansatz für den Ressourcenmangel dienen. Sagen wir, eine Krankenkasse organisiert ein Netzwerk-Treffen mit regionalen Partnern aus dem Umfeld eines Betriebes, beispielsweise mit einem Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft, jemandem aus dem Regionalmanagement oder der Wirtschaftsförderung. Dann habe ich aus Sicht des Betriebes verschiedene Player vor Ort, an die ich herantreten kann und die für mich mitdenken und arbeiten können. Das erspart mir nicht nur Zeit sondern im Zweifel sogar Geld, weil diese potentiellen Partner teilweise ein Budget zur Verfügung haben. Wenn ich also auf den Ressourcenmangel angesprochen werde, dann sage ich vor genau diesem Hintergrund: Investiere die eine Stunde, dich zusammenzusetzen und du wirst sehen, wo du Hilfestellungen bekommen kannst und dass das gar nicht so zeitaufwendig und kompliziert ist.